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Mein erster Beitrag im Reisejournal USA soll Walter gewidmet sein. Eine eindrückliche Begegnung, ein faszinierender Moment. Wir fuhren gemeinsam im Überlandbus, in diesem Fall im klassischen Greyhound von Pittsburgh, Pennsilvanie (PA) nach Chicago, Illinois (IL), mit einem längeren Aufenthalt in Cleveland, Ohio (OH) (der noch eine unrühmliche Rolle spielen wird diesem Beitrag).
Walter ist, nachdem er lange Zeit selbst als Trucker gearbeitet hatte, inzwischen Instruktor für LKW-Fahrten in den Bergen. Berge gibt es in dem Land ja genug, und wer sich wundern mag, dass man dafür ein eigenes Training braucht, der muss nur mal auf einer deutschen Autobahn versuchen, an einem steilen Berg aufzufahren, wenn die rechte Spur auf mehrere Kilometern dicht an dicht von LKWs okkupiert ist. Einziges Gepäck von Walter: ein 5-Liter-Kanister von irgendeiner Sportlernahrung, tatsächlich befand sich aber nur Wasser darin. Die Fahrt dauerte die ganze Nacht.
Man muss sich Walter vorstellen als eine Mischung aus René, einem Klassenkameraden aus meinem alten Abi-Jahrgang, und Samuel L. Jackson: groß, eher schmal aber zäh, ein paar Jahre älter als ich, schwarz (zum Thema black versus afro-american mehr an anderer Stelle), ziemlich entspannt und sehr clever, alles in allem also mehr SLJ als René. Einfach end-cool. Unabhängig vom sozialen Status. In amerikanischen Überlandbussen fahren bekanntlich nur arme Menschen, die sich weder Auto noch Flugzeug leisten können. Neben Walter seien aus meinen persönlichen Bekanntschaften genannt: ein Mädel, das ihre Schwester in New York besucht hatte und (bei meiner ersten Busfahrt von New York nach Pittsburgh) nun dreieinhalb Tage Busfahrt nach Montana zurück zu ihrer einfachen Farm vor sich hatte, sowie ein junger Amish, der sogar ein wenig Deutsch sprach, weil er – aufgrund der historischen Beziehungen seiner community – eine Zeit in Südamerika (Argentinien?) verbracht hatte, Deutschkurs inklusive. Er hatte sich über die bekloppte Touristin aus Deutschland gefreut, die allen Ernstes für die Strecke von New York nach Chicago den Landweg nimmt.
Walter habe ich mir beim Warten auf den Bus in Pittsburgh auserkoren, ein Auge auf mein Gepäck zu werfen, während ich ganz dringend ein Örtchen aufsuchen musste. Offensichtlich eine gute Wahl. Gepäck für 4 Wochen und alle Klimazonen ist halt zu sperrig für enge Klokabinen. Im Bus saßen wir dann auf benachbarten Sitzen und unterhielten uns eine Weile sehr angeregt. Vier Wochen später – oder eben jetzt bzw. bei meiner nächsten Tour – würde ich mehr rausholen: wenigstens ein Erinnerungsfoto, eine Mailadresse und ein Bier in Chicago, bevorzugt in seinem local pub oder einem angesagten Jazz-Keller. Zu meiner Entschuldigung sei gesagt, dass ich erst ein paar Tage im Land war, den ungewissesten Teil – die Autofahrt – noch vor mir hatte, und mich kulturell noch akklimatisierte. Weitgehend auf dem Klischee-Ticket reiste und große Vorsicht walten ließ. Junge weiße Frau trifft….
Bei einer Sache, der wohl unangenehmsten Begebenheit meiner ganzen Reise, konnte mir allerdings selbst Walter nicht helfen: Bei dem erwähnten längeren Aufenthalt in Cleveland – die Greyhound-Station befand sich irgendwo im Industriegebiet, Passagiere zu 70% und Bedienstete zu 90% Schwarze – wollte der Typ an der Kontrolle für die Weiterfahrt plötzlich ein zweites Ticket sehen! Dabei stand noch der gleiche Bus dort, mit meinem Gepäck nachweislich im Bauch, und mein Ticket war doch in Pittsburgh vom dortigen Kontroll-Typen eingesammelt worden! No, ma’m, no ticket – no boarding. Ich stand hilflos und zunehmend verzweifelt neben der Schlange und sah den Bus schon ohne mich, aber mit meinem Gepäck weiterfahren. Alle Bitten und Argumente, dass auf meinem bereits eingesammelten Ticket ganz sicher Chicago als Destination stünde und dass das die Leute am Ticket-Schalter in Pittsburgh ganz sicher kontrolliert hätten – siehe den Anhänger an meinem Gepäck! – nützten: zero. Ich kam mir vor wie Kafka in einem seiner Romane (um nur ein kleines bisschen zu übertreiben). Ich bewegte mich planlos durch den Ausgang langsam Richtung Bus, als mir ein Gepäck-Gehilfe, jung, schwarz und ganz sicher ohne jede Entscheidungsbefugnis angesichts meines Elends beschied, mich unauffällig in den Bus zu verdrücken. Was ich tat, klopfenden Herzens, das Hirn im Schleudergang nach einer Lösung des Ticket-Problems suchend.
Ich schlich mich ganz nach hinten, saß wieder in der Nachbarschaft von Walter, der sichtlich erleichtert war, dass ich irgendwie noch in den Bus reingekommen war, und suchte fieberhaft in meinen Unterlagen nach dem fehlenden Ticket. Dafür schmiss ich sogar den Laptop an, aber dummerweise hatte ich das Ticket nicht lokal abgespeichert (was der scharfe Kontroll-Hund ohne Ausdruck ohnehin nicht akzeptiert hätte, was aber mein Gewissen erleichtert hätte), sondern online auf dem Greyhound-Server belassen. Und das allmächtige W-LAN funktionierte im Bus, trotz gegenteiliger Ausschilderung, dann auch nicht.
Die saubere, gerechte Lösung kam aber doch! Wer die Suse, die alte Altgewönnerin kennt, wundert sich nicht wirklich. Beim Durchsuchen meiner eigentlich extrem sorgfältig zusammengestellten Unterlagen fiel mir auch das Schmierblatt in die Hände, mit dem ich die verschiedenen Greyhound-Tickets gebündelt hatte. Ich hielt das Blatt für einen Fehlausdruck, den mein Drucker aufgrund eines – wohl doch nur imaginierten – Bedienfehlers als überflüssige Kopie ausspuckte. Tatsächlich handelte es sich bei dem Schmierblatt um den von mir komplett übersehenen zweiten Teil des Pittsburgh-Chicago-Tickets! Wer im fernen Europa kann aber bitte auch erahnen, dass man wegen eines Zwischenstops für den *gleichen* Bus ein zweites Ticket braucht?
Meine Genugtuung, mit der ich dem Kontroll-Typen, der aus Cleveland mitgefahren war, beim Aussteigen meine Ticket unter die Nase hielt, könnt ihr euch gar nicht groß genug vorstellen!
Dieser kleine, schweißtreibende Vorfall hat meine entspannte Konversation mit Walter verständlicherweise empfindlich gestört. Außerdem waren wir beider sehr wohl in der Lage, die Mehrzahl der nächtlichen Fahrstunden für’s Schlafen zu nutzen.
Dann waren wir in Chicago angekommen. Wir verabschiedeten uns. Ich verließ das Gebäude und hielt Ausschau nach einem Taxi, dass mich zu meinem Hostel bringen würde (oder hatte ich sogar jemanden gebeten, ein Taxi für mich zu rufen?). Wir warteten eine Weile, zusammen mit anderen ebenso übernächtigten Passagieren, vor dem Gebäude. Als das Taxi schließlich kam, umarmte mich Walter spontan zum Abschied, obwohl wir uns eigentlich schon längst goodbye und Guten Aufenthalt! gesagt hatten.
Offenbar fand auch Walter die Begegnung mit mir eindrücklich.
Keep going, Walter!